Hatespeech aus Sicht der Linguistik
Ein Interview mit HateAid
von josch am 2022-02-24

Jeanine Isernhagen hat mich für den Artikel "Was Sprache als Waffe so gefährlich für uns alle macht" im Blog von HateAid interviewt. Das Interview, das wir wegen der Zeitverschiebung schriftlich geführt haben, dokumentiere ich hier.

Wie lässt sich Hatespeech aus Sicht der Linguistik definieren?

In der Sprachwissenschaft definieren wir "Hassrede" etwas enger als im allgemeinen Sprachgebrauch. Nicht jede Ausgrenzung, Abwertung oder Beleidigung ist für die Sprachwissenschaft Hassrede, auch wenn sie Hass ausdrückt. Wer eine andere Person hasserfüllt als "dumme Sau" bezeichnet, beleidigt diese zwar, Hassrede ist es aus sprachwissenschaftlicher Perspektive jedoch nicht. Ein wichtiges Merkmal von Hassrede ist, dass die Abwertung über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe motiviert ist. Allerdings sprechen wir nur dann von Hassrede, wenn der Gruppe diese Merkmale als natürlich und unveränderlich zugeschrieben werden. Deswegen ist die Bezeichnung "Nazi" zwar eine Beleidigung, aber keine Hassrede, denn Einstellungen oder politische Haltungen sind nicht angeboren. Wer dagegen in Bezug auf Geflüchtete aus Afghanistan von unüberbrückbaren Kulturunterschieden und kultureller Inkompatibilität spricht (wie der ehemalige AfD-Sprecher Jörg Meuthen dies beispielsweise getan hat), der essenzialisiert Kultur und erklärt sie zum unveränderlichen Bestandteil der menschlichen Natur.

Natürlich ist bei Äußerungen nicht immer klar, woher sie ihre abwertende Kraft beziehen. Ein Beispiel: Als der Boxer Graciano Rocchigiani seinen Gegner Dariusz Michalczewski als "dummen Polen" bezeichnete, behauptete er anschließend, die beleidigende Kraft seiner Äußerung verdanke sich nicht der Ethnisierung als Pole; vielmehr gebe es kluge und dumme Polen, Michalczewski sei eben ein dummer. Die Öffentlichkeit allerdings verstand das Wort "Pole" mehrheitlich als sog. Ethnophaulismus, also als ein ethnienbezogenes Beleidigungswort, und Rocchigianis Erkärungen als Schutzbehauptung.

Hassrede ist, das zeigt das Beispiel, also keine objektive Eigenschaft sprachlicher Ausdrücke. Ob es sich in diesem und ähnlichen Fällen um Hassrede handelt, ist auch nicht nur eine Frage, ob eine Beleidigungsabsicht vorlag oder sich die adressierte Person beleidigt fühlt, sondern vor allem eine Frage, wie Dritte bzw. die Öffentlichkeit Äußerungen deuten.

Welche Elemente machen Hassrede so gefährlich?

Hassrede hat einen Einfluss auf unsere Vorstellungen von der sozialen Ordnung. Wer gehört dazu, wer ist marginalisiert? Wer legt die Werte einer Gesellschaft fest? Welches zukünftige politische Handeln wird dadurch plausibel? Man kann deshalb unterscheiden zwischen Effekten für die Betroffenen, für die Äußernden und für die Gesellschaft.

Für die Betroffenen: Von Hassrede Betroffene werden nicht nur abgewertet und marginalisiert, sondern ihnen wird gesagt, dass sich daran auch nichts ändern wird und kann, weil die behaupteten negativen Eigenschaften ihnen quasi natürlich zukommen. Wer häufiger von Hassrede betroffen ist, neigt zudem dazu, Einzeläußerungen als dominantes Framing der ganzen Gesellschaft wahrzunehmen, was zu self-enclosure führen kann. Gerade deshalb ist Unterstützung für Adressatinnen und Adressaten von Hassrede wichtig.

Für die Äußernden: Sie werten sich durch Hassrede selbst auf. Sie vergemeinschaften sich im Modus von Beschimpfung und Herabwürdigung auf Social-Media-Plattformen. Zudem folgt Hassrede, zumindest von oder mit Bezug auf Personen des öffentlichen Lebens, oft einem Resonanzkalkül. Durch gezielten Gebrauch herabwürdigender Äußerungen lenken die Äußernden die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Agenda.

Für die Gesellschaft: Wer Hassrede benutzt, beruft sich immer auf in Teilen einer Gesellschaft anerkannte Vorurteilen gegenüber Gruppen (nämlich, dass sie quasi natürlich bestimmte Eigenschaften haben). Hassrede hat deshalb immer das Potenzial, diese Stereotype in Erinnerung zu rufen, und appelliert an die Zeugen von Hassrede, sie als gerechtfertigt zu bestätigen. Hassrede kann also gesellschaftliche Ausgrenzung bzw. Marginalisierung fortscheiben und verstärken.

Welche Auswirkungen kann es haben, wenn Kommentarspalten immer mehr Hasskommentare und digitale Gewaltandrohungen enthalten?

Einerseits setzen sich Wahrnehmungsmuster fest, in denen Einzelpersonen immer schon als Vertreter:innen von Gruppen fungieren. Das wird beispielsweise an den hysterischen Mutmaßungen über die Herkunft von Täter:innen sichtbar, die unmittelbar nach einer Tat auf Social Media losgehen, als sei die Herkunft eine hinreichende Erklärung dafür, warum ein Verbrechen verübt wurde.

Was ich auf vielen rechten Plattformen beobachte ist,

Diese Normalisierung von Gewalt führt dazu, dass sich manche zu gewaltsamem Handeln legitimiert fühlen.

Was kann jeder Einzelne in seinem sprachlichen Alltag tun, um dagegen anzukämpfen?

Sich selbst sprachsensibel zu verhalten und zu signalisieren, dass man das Gegenüber als Individuum und nicht als Vertreter:in einer Gruppe auffasst, ist sicherlicher ein erster wichtiger Schritt. Unsensiblen Sprachgebrauch anderer durch Bewusstmachung der Betroffenenperspektive zu thematisieren, kann auch ein Mittel sein, kann aber auch zu Reaktanzen führen.

Ich bin allerdings nicht sicher, ob "ankämpfen" gegen Hassrede immer die richtige Strategie ist, zumindest bei denjenigen, die absichtsvoll Hassrede gebrauchen. In manchen Situationen kann Gegenrede eine richtige Entscheidung sein. Wir sollten aber stets abwägen, ob wir damit nicht das Resonanzkalkül der Benutzer:innen von Hassrede bedienen. Denn Gegenrede wertet den Hetzer zum Gesprächspartner auf und verschafft ihm Aufmerksamkeit. Das wirksamste Mittel gegen Hassrede ist immer noch, jenen, die eine solche Sprache gebrauchen, die Bühne zu nehmen, auf die sie sich mit ihrer Hetze zu stellen versuchen. Über nichts beklagen sich Hetzer:innen mehr als über Nichtbeachtung. Das heißt freilich nicht, dass man Betroffene von Hassrede nicht unterstützen sollte. Im Gegenteil: Sie verdienen Aufmerksamkeit, Solidarität und Wertschätzung.

Was kann die Gesellschaft als Ganze mit Blick auf die Sprache tun, um Hatespeech nicht noch mehr Raum zu geben?

Diejenigen, die beleidigen und diskriminieren wollen, werden immer sprachliche Mittel finden, dies auch zu tun. Wichtig ist daher, gesellschaftliche Stereotype zu entkräften und Vorstellungen von biologisch bedingter sozialer Ungleichheit immer kritisch zu hinterfragen. In Bezug auf Sprache scheint mir wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass Sprechen Handeln ist und dass wir mit Sprache Wirklichkeit schaffen. Ein größeres Bewusstsein über die Effekte ihres Sprechens dürfte bei einigen auch zu einer höheren Sensibilität im Sprachgebrauch führen.


Kategorie: Gesellschaft, Definitionen, Linguistik; Keywords: Interview, Hassrede, Hate Speech, Beleidigung

Duden-Kritik
Politische Korrektheit von rechts
von josch am 2020-08-13

Alle paar Jahre gibt es eine Neuauflage des Duden, in der sich ein paar tausend neuer Lemmata finden. Diese verdanken sich einerseits dem geänderten Sprachgebrauch, den die Dudenredaktion mit Hilfe großer Textdatenbanken untersucht. Sie verdanken sich andererseits verlegerischem Kalkül, denn jede neue Auflage macht frühere Auflagen zu veralteten Auflagen und gibt Büros, Schulen und Privatleute einen Grund zum Kauf der neuesten. Weil Änderungen des Wortschatzes immer auch als Anzeichen gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen gedeutet werden können, stoßen die Neuauflagen auf öffentliches Interesse. Und die Medien machen gratis Werbung, indem sie über die "neuen Wörter" berichten.

Beitrag der AfD Landtagsfraktion auf einem sozialen Netzwerk vom 13. August 2020

In diesem Jahr trägt auch die AfD dazu bei, dass der Duden Verlag gratis Werbung für seine Neuauflage bekommt. Auf Facebook vermeldete die AfD-Fraktion:

+++ Der neue Duden ist eine einzige linkspolitisch, genderideologisch und denglisch verzerrte Enttäuschung, zur Durchsetzung linker Politik! +++

Abgesehen von der fehlerhaften Kommasetzung, die den Erwerb des Duden für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landtagsfraktion vielleicht doch angezeigt erscheinen lässt, ist die Stellungnahme, die sich auf der Website der Landtagsfraktion in voller Länge findet, noch in anderer Hinsicht bemerksenswert. Denn im Text heißt es:

So weiß der Bonner Linguistiker Kristian Berg, dass im Duden nur Wörter stünden, die ‚systematisch im Deutschen verwendet werden‘ – leider vergaß er zu erläutern, von wem. So gehören Zusammensetzungen wie ‚Alltagsrassismus‘ oder ‚rechtsterroristisch‘, aber auch ‚Klimanotstand‘ oder ‚Ladesäule‘ nur zum ideologischen Sprachschatz kleiner Gruppen von Sprachverwendern wie Aktivisten, Politikern oder Journalisten – die diesen Sprachschatz gern der Mehrheit der Bürger verordnen wollen, um aus ihren [sic!] kruden Weltsicht Welt werden zu lassen.

"... um aus einer Weltsicht Welt werden zu lassen." - Macht sich die AfD also endlich Theorien von der wirklichkeitsschaffenden Funktion von Sprache zu eigen? Ausgerechnet jene Theorien aus Poststrukturalismus und Konstruktivismus, die sie lange so vehement bekämpft hat? Oder vertritt sie etwa selbst jene Position, die sie - Bemühungen um mehr Sprachsensibilität lächerlich machend - ihren politischen Gegnerinnen und Gegnern unterstellt, dass nämlich der Sachverhalt mit der Verbannung des Wortes verschwindet? Dass es also Rechtsterrorismus nicht mehr gibt, wenn wir nicht mehr "rechtsterroristisch" sagen? Oder dass die Unmenge an Ladesäulen verschwindet, wenn erst das Wort "Ladesäule" aus dem deutschen Sprachschatz verbannt ist? Und dass es keine Hassrede und keine Diskriminierung mehr gibt, wenn man nicht mehr "Hatespeech" und "Alltagsrassismus" sagen kann?

Meinungsäußerung von Anton Baron, AfD-MdL in Baden-Württemberg, auf einem Kurznachrichten-Dienst

Mehrere sprachwissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die AfD die in bundesdeutschen Parlamenten vertetene Partei ist, die am häufigsten Kritik an der Sprache übt. Deutlich häufiger übrigens als die Grünen und auch mit bemerkenswertem Abstand zur Linken, denen die AfD selbst vorwirft, sich als Sprachpolizisten zu gerieren. Auch dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen Sprachthematisierungen und politischem Extremismus gibt, finden sich empirische Belege. "Politische Korrektheit" jedenfalls, verstanden als Einschränkung des Gebrauchs sprachlicher Mittel aufgrund politischer Rücksichtnahmen, ist keineswegs ein bloß "linkes" Phänomen. Dafür liefert die Duden-Kritik der AfD einen weiteren Beleg.

Literatur

  • Scharloth, Joachim (2017): Ist die AfD eine populistische Partei? Eine Analyse am Beispiel des Landesverbandes Rheinland-Pfalz. In: Aptum, 1/2017, S. 1-15. preprint
  • Bubenhofer, Noah / Joachim Scharloth (2014): Sprachthematisierungen: Ein korpuslinguistisch-frequenzorientierter Zugang. In: Aptum, 2/2014, S. 140-154. preprint

PS: Auch die Bezeichnung "Linguistiker" könnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mal im Duden nachschlagen.

Kategorie: Linguistik, Free Speech; Keywords: politische Korrektheit, neue Rechte, AfD

"Flüchtlings"-Kritik: Politische Korrektheit von rechts
von josch am 2020-02-19

Es gehört zu den zahlreichen Selbstwidersprüchen der neuen Rechten, einerseits gegen eine vermeintliche Political Correctness ("politische Korrektheit") zu polemisieren, aber zugleich wie kaum eine andere Diskursgemeinschaft Kritik am öffentlichen Sprachgebrauch zu üben.

Vor der letzten Bundestgaswahl habe ich für ein Radiofeature von Kilian Pfeffer vom SWR den Sprachgebrauch in Pressemitteilungen der Bundesparteien verglichen (PDF). Eine Vergleichskategorie war, wie häufig die Parteien die Sprache selbst, d.h. die Form oder den Inhalt von Ausdrücken, selbst zum Thema machen. Ein recht einfaches zu operationalisierendes Maß hierfür ist, wie häufig die Parteien Ausdrücke in Anführungszeichen setzen, wie häufig sie einen Ausdruck mit einem vorangestellten "so genannt" (und orthographischen Varianten) rahmen. Beides sind Praktiken, mit denen man sich im Medium der Schrift von Inhalt oder Form eines Ausdrucks distanzieren kann. Schon frühere Studien haben gezeigt, dass extremistische Parteien wie die NPD besonders häufig dazu neigen, sich von der herrschenden Semantik zu distanzieren. Im Fall der nun im Bundestag vertretenen Parteien war das Ergebnis eindeutig:

Sprachthematisierungen in den Pressemitteilungen der Bundesparteien vor der Bundestagswahl 2017 je 10.000 Wörter

Die AfD distanziert sich häufiger als alle anderen Parteien von den von ihr verwendeten Ausdrücken. Unter 10.000 Wörtern thematisiert sie im Durchschnitt rund 30 Wörter, fünf mehr als die CDU, die auf Platz zwei folgt. Am seltensten thematisieren SPD und Grüne Ausdrücke als problematisch.

Untersucht man, welche Ausdrücke im Vergleich zu anderen Parteien von der AfD besonders häufig in Anführungszeichen gesetzt oder mit einem "sogenannt" geframet werden, dann finden sich Begriffe, die der migrations- und linkskritische und populistische Ausrichtung der Partei zeigen. Zu den häufigsten Wörtern zählen Flüchtling, Energiewende, Antifa, Aktivist, Elite und politisch Korrektheit.

Sprachkritisch thematisierte Ausdrücke in den Pressemitteilungen der AfD vor der Bundestagswahl 2017

Mit der "politischen Korrektheit" ist es so eine Sache. Wie an anderer Stelle gezeigt, kam sie als politischer Kampfbegriff der Neuen Rechten nach Deutschland. Der Begriff verdichtet ein Strohpuppen-Argument, ein Argument, das ein Anliegen des politischen Gegners so verzerrt, dass es per se als unsinnig oder illegitim erscheint. Demnach werden bestimmte Aussagen nur aufgrund politischer Rücksichtnahme getätigt, andere aus denselben Gründen tabuisiert. Diese Rücksichtnahme führt aber dazu, dass die gemachte Aussage im Hinblick auf den Gegenstand, auf den sie Bezug nimmt, falsch ist; nur in politische Hinsicht ist sie wahr. Wer also die Wahrheit sagen möchte, der ist gezwungen, sich "politisch inkorrekt" auszudrücken, und wird ggf. zum Opfer sozialer Ächtung. Schuld an der vermeintlichen Unsagbarkeit des "sachlich Wahren" sind "Linke", "Kulturmarxisten", "Mainstreammedien", "radikale Minderheiten" etc. Soweit das Strohpuppenargument.

Angesichts der Tatsache, dass die AfD als parlamentarische Rechte am häufigsten den öffentlichen Sprachgebrauch kritisiert, ist es doch erstaunlich, dass sie sich so vehement gegen "politische Korrektheit" ausspricht. Wie jede, die Kritik übt, nimmt freilich auch die AfD für sich in Anspruch, diese Kritik im Namen der Wahrheit zu äußern. Die "Energiewende" ist in ihren Augen eben keine Energiewende sondern ein Schritt zur Deindustrialisierung Deutschlands.

Kürzlich erreichte mich unter dem Betreff "Präsupposionen, Populismus" die Zuschrift eines selbsterklärten AfD-Wählers zu jenem Ausdruck, der von Seiten der AfD am häufigsten thematisiert wird. Das Wort "Flüchtling", kritisiert er, sei Migranten "präsupponierend zugeschrieben" worden. Dies finde er insofern populistisch, als der Ausdruck nicht differenziert genug und geeignet sei, "Emotionen zu wecken sowie mit ihnen verbundene Handlungsdispositionen zu nutzen". Vereinfacht gesagt: Das Wort "Flüchtling" sei im öffentlich Diskurs pauschal für all jene verwendet worden, die im Zuge der Flüchtlingskrise nach Deutschland gekommen seien. Weil das Wort "Flüchtling" aber unterstelle, dass diese Menschen geflohen bzw. auf der Flucht seien, wecke es Mitleid und Anteilnahme und schaffe so Akzeptanz für politische Maßnahmen, beispielsweise für die Aufnahme und Unterstützung der zu uns kommenden Menschen. Entspechend fand der Zusender den Gebrauch des Wortes "Flüchtling" "sehr populistisch". In einem seiner Texte benutzt er "Migrant" als Gegenbegriff. Ich antwortete:

Die Frage, ob "Flüchtling" oder "Migrant" die treffender Bezeichnung gewesen wäre, ist sicher nicht ganz leicht zu beantworten. Und sicher haben Sie Recht, dass "Flüchting" bestimmte Prädikationen präsupponiert.

Betrachtet man allerdings die Verwendungsweise von "Migrant", dann ist es so, dass die Bezeichnung "Migrant" in der überwiegenden Zahl der Fälle in der Mediensprache dann verwendet wird, wenn man die reguläre Arbeitsmigration einschließt oder sich gar vorwiegend auf diese bezieht.

Ich denke, dass die Bezeichung "Migrant/Migrantin" daher nicht zutreffend, sogar irreführend gewesen wäre. Denn es ging ja in der Berichterstattung gerade um solche Menschen, die ohne Visum und Arbeitsgenehmigung nach Deutschland kamen und den Problemen, die sich daraus ergaben.

Ich bin kein Jurist, aber der Mehrzahl der Menschen, auf die sich die Berichterstattung bezog, wurde m.W. ein rechtlicher Status entweder nach Asylrecht (Asylbewerber), der Genfer Flüchtlingskonvention (Flüchtling) oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (subsidiärer Schutz) zugeschrieben. Insofern sind die Ausdrücke "Flüchtling" oder "Schutzsuchende", was ja auch häufiger verwendet wurde, durchaus im Hinblick auf die Referenz zutreffend und präziser als "Migrant". Ich sehe darin zunächst mal nichts Populistisches.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Zwar räumte der Zusender ein, "Flüchtling" sei einerseits ein durch rechtliche Urteile zugewiesenes Prädikat. Er wandte jedoch ein, dass die Bezeichnung "Flüchtling" alltagssprachlich eine andere Bedeutung habe und vor diesem Hintergrund die Zuschreibung eines Flüchtlingsstatus durch alltagsweltliche Beobachtungen hinterfragbar sei. Das Wort "Migrant" habe ihm nur als Beispiel für einen Oberbegriff für "Flüchtling" und verwandte Begriffe gedient, man könne stattdessen auch "Sich Bewegende" benutzen.

Was der Zusender (der übrigens freundlich und angenehm sachlich schrieb und das Wort "Linksintellektuelle" gerne in Anführungszeichen setzt) also fordert, ist, dass Medien juristisch adäquate Ausdrücke nicht nutzen sollten, weil diese dem Alltagsverständnis nicht gemäß seien und ihre Präsupposition verhindere, dass migrationskritisch eingestellte Menschen öffentlich das Asylrecht in seiner heutigen Form in Frage stellen könnten.

Dass der Alltagssprachgebrauch vielfältig ist und davon ausgegangen werden kann, dass gerade in umkämpften Diskursfeldern wie Zuwanderung und Asyl hier keine einheitliche Bedeutung für bestimmte Ausdrücke zu finden sind, lässt es meiner Meinung nach zweifelhaft erscheinen, den Sprachgebrauch in den Medien auf den Alltagssprachgebrauch zu verpflichten, ohne sie dem Verdacht auszusetzen, parteiisch zu sein. Darauf soll es hier aber nicht ankommen, sondern auf das Folgende.

Dem Sachverhalt adäquate Ausdrücke nicht verwenden, bloß weil sich eine politische Gruppe vom Diskurs ausgeschlossen fühlt - das ist exakt das, was die Neue Rechte als "politische Korrektheit" brandmarken würde und gerne auf dem "Müllhaufen der Geschichte" entsorgen würde, wie Alice Weidel auf dem Bundesparteitag der AfD 2017 in Köln forderte. Oder doch nicht? Die Forderung nach einem weniger gegenstandsadäquaten, dafür aber (für die neue Rechte) inklusiveren und anschlussfähigeren Sprachgebrauch, findet sich immer häufiger. Schon länger äußern rechte Parteien sich häufiger sprachkritisch als Parteien aus anderen politischen Lagern. Leben wir also in einer Zeit der politischen Korrektheit von Rechts?

Kategorie: Linguistik, Free Speech, Zuschriften; Keywords: politische Korrektheit, neue Rechte, AfD