Zuschrift: Debattenkultur
Brauchen wir eindeutige Definitionen?
von josch am 2018-09-17

Von Zeit zu Zeit erreichen den Betreiber dieses Blogs Zuschriften von Leserinnen und Lesern. Meistens handelt es sich um Meinungsbeiträge, die sich auf die Kompetenz und den Charakter des Betreibers richten. Solche Zuschriften lege ich gerne im Ordner "Beleidigungen / Beispiele" ab und verwende sie dann anonymisiert in Lehrveranstaltungen zur Freude der Studierenden. Andere Zuschriften zeigen echtes Interesse und ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die sich mit dem Thema so intensiv beschäftigen, dass sie - wie ich auch - echten Klärungsbedarf haben. Nicht immer komme ich dazu, sofort zu antworten. Die Antwort auf die letzte Zuschrift poste ich aber gerne im Blog, weil sie einige sehr interessante Fragen aufwirft.

1) Obwohl wir uns im 21. Jahrhundert befinden und das Diskutieren durch die (auch sozialen) Medien irrwitzige Dimensionen erreicht hat, sind wir m.E. mit unserer Kommunikationskultur eher ins Mittelalter zurückgefallen. Wie kann man eigentlich adäquat diskutieren, wenn Begriffe wie "Populismus", "rechts", "links", "Hass", "Hassrede", etc. nicht eindeutig (!!!) vorher definiert werden? Und damit meine ich EINE Definition nicht von 29 "Experten". Wie soll da eine sachliche Auseinandersetzung zustande kommen, wenn man dadurch meistens über 2 verschiedene Dinge redet?

Die Bedeutung von Wörtern kann man meiner Meinung nacht nicht ein für alle Mal und für alle verbindlich festlegen, zumindest nicht in einer Sprache, die täglich benutzt wird. Ohne jetzt allzu sprachtheoretisch werden zu wollen: Ohne eine gewisse Flexibilität in der Bedeutung und ohne die unscharfen Grenzen könnten wir Wörter gar nicht auf neue Sachverhalte anwenden. Selbst im Bereich des Rechts kann man die Bedeutung von Ausdrücken zwar bis zu einem gewissen Grad festschreiben, es bedarf aber immer noch der Rechtsprechung, um zum Beispiel zu klären, mit welchem Begriff ein bestimmter Sachverhalt adäquat gefasst wird. So ist der Unterschied zwischen Mord und Totschlag in §211f StGB zwar einigermaßen deutlich bestimmt (wobei es natürlich Auslegungssache und damit ein Ergebnis von Rechtsprechung ist, was "niedrige Beweggründe" sind), ob in einem konkreten Fall das eine oder andere vorliegt, ist damit aber immer noch nicht klar und Gerichte können diesbezüglich zu unterschiedlichen Urteilen kommen. Auch in der Wissenschaft betrachten wir Begriffe als Instrumente, mit denen wir die Wirklichkeit erschließen. Und das Ringen um jene Definition, die das am besten tut, ist nicht unabhänhig von dem Zweck, den man mit der eigenen Forschung verfolgt. Deshalb macht man in wissenschaftlichen Publikationen normalerweise die Forschungsinteressen transparent und erklärt in Auseinandersetzung mit anderen, bisher vorgeschlagenen Definitionen, warum man sich für welche Definition eines Begriffs entscheidet. Aber in der Wissenschaft verläuft die Diskussion meistens einigermaßen sachlich. Das dürfte vor allem daran liegen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestimmte Grundüberzeugungen teilen und sich auf bestimmte Verfahren verpflichtet fühlen. Im Umkehrschluss ist es vielleicht so, dass die Diskussionen deshalb so sehr aus dem Ruder laufen, weil gesellschaftlich dieser Konsens nicht mehr für alle Geltung zu haben oder auch nur erstrebenswert zu sein scheint. Dazu mehr in meiner Antwort auf Frage 3.

2) Sind Sie nicht auch der Meinung, man bräuchte ein (nennen wir's mal) Definitionsbuch, wo Begriffe eindeutig für Diskussionen definiert werden, um eine qualitative (politische) Diskussion zu gewährleisten, die nicht das Geschmäckle von sich streitenden Steinzeitmenschen hat?

Ein festes Definitionsbuch hieße, dass es eine herrschende Semantik gibt, die jede bzw. jeder anzuerkennen habe. Das wird so nicht funktionieren. Gerade in politischen Fragen ist jeder Begriff ein Medium, die Welt so zu beschreiben, wie es den eigenen politischen Ansichten entspricht. Deshalb ist jede Diskussion um Worte auch eine Frage, wie die Wirklichkeit verfasst ist. Und jeder politische Akteur möchte gerne seine Sprachregelung durchsetzen und für alle verbindlich machen - und mit ihr seine Interpretation der Welt. "Hetzjagd" oder "Jagdsezenen" oder "verständliche Reaktion trauernder Bürger", "Betreuungsgeld" oder "Herdprämie", "beispielloser Völkermord" oder "Fliegenschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte" konstruieren jeweils den Sachverhalt auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen. Wenn Sie so wollen: Menschen, die die eine oder andere Bezeichnung benutzen, reden auch tatsächlich über zwei verschiedene Dinge, wie Sie es in Frage 1 genannte haben, Und jede Bezeichnung legitimiert andere politische Maßnahmen oder fordert geradezu dazu auf. Solche Bezeichnungskonkurrenzen verweisen auf grundlegende Differenzen in der Konstruktion von Wirklichkeiten und treten in gleicher Weise auf, wenn man versucht, Dinge zu definieren. Über Begriffe zu diskutieren, wird uns wohl nicht erspart bleiben. Denn es geht dabei um viel mehr als um Worte.

3) Sind Sie nicht auch der Meinung, bzw. wie finden Sie es, wenn politische Diskussionen mit festen Regeln (Sprechzeit, Ausreden lassen, etc.) geführt werden?

Um eine Diskussionskultur wie unter Steinzeitmenschen (obwohl: vielleicht waren die ja viel gesitteter, als wir uns ausmalen) zu verhindern, können Regeln sicher hilfreich sein. Das können formale Regeln sein oder auch diskursethische (wie eine Verpflichtung auf Rationalität, Konsensorientierung, Gemeinwohlorientierung etc.). Allerdings zeigt die Geschichte, dass das Durchbrechen von solchen Gesprächsordnungen immer auch ein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist, insbesondere von jenen, die glauben, keine Stimme zu haben und sich gegen einen übermächtigen Gegner behaupten zu müssen. So war es bei den 68ern, am Anfang bei den Grünen, so ist es heute bei den meisten Populisten, die sich nach Ansicht von Politikwissenschaftlern "parasitär" zu den Regeln des demokratischen Diskurses verhalten (man denke nur an die zahlreichen Unwahrheiten, die Trump in seiner Amtszeit schon verbreitet hat, und seinen Kommunikationsstil). Ich denke, wir müssen uns damit abfinden, dass ein Teil des politischen Spektrums sich davon verabschiedet hat, einen Konsens suchen zu wollen und eingestandenermaßen von der Revolution träumt. Entsprechend rechne ich nicht damit, dass sich dieser Teil auf einen Konsens zu einer geregelten politischen Auseinandersetzung verpflichten ließe, noch sich an einer ernst gemeinten Suche nach einem solchen Konsens beteiligen würde.

4) Nach Ihrer Definition von "Hassrede" wäre der Tatbestand erfüllt, wenn man jeden, der bei PEGIDA mitläuft oder Mitglied der AfD ist, als "Nazi" oder "Rechtspopulisten" stigmatisiert bzw. tituliert.

Ist die Titulierung von Personen als "Nazi" oder "Rechtspopulist" nach "meiner" Definition Hassrede? Ich glaube, da verstehen Sie mich falsch. Ich schreibe: "Im Unterschied zu anderen Formen der Hearbwürdigung liegt Hate Speech dann vor, wenn die Herabwürdigung ihre herabwürdigende Kraft daraus bezieht, dass eine Person als Vertreterin einer Gruppe adressiert wird und ihr negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die dieser Gruppe vermeintlich kollektiv, universell und unveränderbar zukommen." Entscheidend ist der letzte Teil der Bestimmung: Wenn ich einer Person, weil sie schwarze Hautfarbe hat oder in einem Maghreb-Staat geboren wurde und aufgewachsen ist, nur wegen ihres Aussehens oder ihrer Herkunft per se negative Eigenschaften zuschreibe, dann ist das nach meiner Meinung und nach der vieler Kolleginnen und Kollegen Hate Speech. Denn weder legen Aussehen oder Herkunft Menschen auf irgend etwas fest, noch liegt es in der Hand der Bezeichneten, an ihrer Herkunft oder ihrem Aussehen etwas zu ändern - sie sind nicht dafür verantwortlich. Anders ist es bei Menschen, die Mitglieder der AfD sind oder bei PEGIDA mitlaufen. Sie können sehr wohl etwas dafür, denn sie haben sich in einem Akt freien Willens dazu entschieden, mitzulaufen, mitzurufen und mitzuklatschen oder der Partei beizutreten, regelmäßig einen Mitgliedsbeitrag zu bezahlen, an Diskussionsabenden und Stammtischen teilzunehmen und womöglich für die Anliegen der Partei zu werben. Und sie machen sich damit auch die Positionen zu eigen, die in den Reden und Transparenten (im Fall von PEGIDA) und in den Programmen und Pressmitteilungen (im Fall der AfD) vertreten werden. Die Zuschreibung "Rechtspopulist" oder "Nazi" erfolgt also nicht auf der Basis unverseller oder unveränderbarer Eigenschaften. Daher handelt es sich aus meiner Sicht nicht um Hate Speech. Natürlich wollen die, die andere als "Nazi" bezeichnen, diese herabwürdigen und ausgrenzen und viele empfinden es als beleidigend, wenn sie als Nazis bezeichnet werden. Aber nicht jede Herabwürdigung und Ausgrenzung ist Hate Speech.

Mit Dank an M. G. aus E. für die anregenden Fragen.

Kategorie: Zuschriften, Meta, Definitionen; Keywords: Hassrede, Hate Speech, Beleidigung, Herabwürdigung, Nazi, Rechtspopulismus

Hassrede in Japan
Japan gibt sich ein Gesetz gegen Hate Speech
von josch am 2016-09-29

Am 25. Mai verabschiedete das Japanische Parlament ein "Gesetz zur Förderung von Anstrengungen zur Beseitigung diskriminierender Rede und diskriminierenden Verhaltens gegen Personen, die nicht aus Japan stammen" ("Act on the Promotion of Efforts to Eliminate Unfair Discriminatory Speech and Behavior against Persons Originating from Outside Japan"), das seit dem 3. Juni 2016 in Kraft ist. Wie der Name des Gesetzes schon sagt, stellt das Gesetz Hate Speech nicht unter Strafe, will aber Maßnahmen befördern, die das Auftreten von Hate Speech dokumentieren, das Bewusstsein in der Bevölkerung durch pädagogische Maßnahmen und Kampagnen heben und Institutionen auf lokaler Ebene schaffen, die Beschwerden über diskriminierende Äußerungen und Schlichtung von Konflikten ermöglichen.

Während der ursprüngliche Gesetzentwurf der Liberaldemokraten (LDP) die Definition von Hate Speech auf Drohungen beschränkte, die sich gegen den Körper, das Leben oder die Freihet von Nicht-Japanern richten, sowie auf verhetzende Äußerungen, die die Exklusion und Herabwürdigung von Nicht-Japanern beinhalten, wurde der Begriff auf Drängen der Demokratischen Partei (DPJ) auch auf stark provozierende Beleidigungen ("egregious insults") der nicht-japanischen Bevölkerung ausgedehnt. Im Wortlaut der offiziellen englischen Übersetzung:

In this Act, "unfair discriminatory speech and behavior against persons originating from outside Japan" shall mean unfair discriminatory speech and behavior to incite the exclusion of persons originating exclusively from a country or region other than Japan or their descendants and who are lawfully residing in Japan (hereinafter referred to in this Article as "persons originating from outside Japan") from the local community by reason of such persons originating from a country or region other than Japan, such as openly announcing to the effect of harming the life, body, freedom, reputation or property of, or to significantly insult, persons originating from outside Japan with the objective of encouraging or inducing discriminatory feelings against such persons originating from outside Japan.

Anlass für die Erarbeitung des Gesetzes waren die sich seit 2012 mehrenden Kundgebungen von Ultranationlisten, darunter auch der Zaitokukai, die teilweise in koreanisch geprägten Stadtteilen wie Shin-Okubo in Tokyo oder Tsuruhashi in Osaka stattfanden. Schon 1995 hatte Japan die UN-Rassendiskriminierungskonvention ratifziert, musste sich jedoch vom UN-Sonderberichterstatter für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit 2005 vorwerfen lassen, dem Problem des Rassismus nicht mit dem gebotenen politischen Engagement zu begegnen. Japan wurde von der UN mehrfach aufgefordert, ein Anti-Diskriminierungsgesetz zu verabschieben. Auch vor diesem Hintergrund muss die Verabschiedung des Gesetzes gesehen werden.

Gegen die Interpretation, nach der nur nicht gerechtfertigte ("unfair") diskriminierende Rede verboten sei, wenden sich beide Kammern des Japanischen Parlaments in einer ergänzenden Feststellung:

The interpretation of Article 2 of this Act that certain form of discriminatory speech and behavior may be allowed as long as it is not the "unfair discriminatory speech and behavior against persons originating from outside Japan" is not correct, and any form of discriminatory speech and behavior shall be appropriately dealt with in view of the intent of this Act, and the spirit of the Japanese Constitution and the International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination.

Verglichen mit dem, was die Kampagne der deutschen Regierung gegen Hate Speech im Netz auslöste, nimmt sich die Kritik in Japan eher bescheiden aus. Neben der Tatsache, dass das Gesetz Hate Speech nicht strafrechtlich verfolgbar macht, ist es vor allem die Beschränkung seiner Gültigkeit auf Menschen, die sich legal in Japan aufhalten ("who are lawfully residing in Japan"), die Kritiker unter den Befürwortern eines Anti-Hate-Speech-Gesetzes auf den Plan ruft. Von der Gegenseite wird das Gesetz als Form der staatlichen Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs und als Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung verunglimpft.

Die japanische Regierung hat indes neben anderem Material ein Video veröffentlicht, das die schädliche Wirkung von Hate Speech und anderen Formen der Diskriminierung aufzeigt und die Bevölkerung sensibiliseren soll. Auch PEGIDA kommt darin vor:



Der Bürgermeister von Osaka, Toru Hashimoto, hat sich vor einiger Zeit den Kritikern seiner Anti-Hate-Speech-Politik gestellt. Mit dem Vorsitzenden der Zaitokukai, Makoto Sakurai, lieferte er sich ein Rededuell, in dem die Kontrahenten nach kürzestert Zeit jede Höflichkeitsform beiseite ließen. Die Aggression ging dabei von Sakurai aus.



Ein Beleg, dass es sich nicht lohnt, mit Menschen über eine inklusive Gesellschaft und sprachliche Sensibilität zu streiten, die mit Hate Speech Politik machen - nicht einmal in einem Land mit einer Höflichkeitskultur wie Japan.

Kategorie: Gesellschaft, Recht; Keywords: Hate Speech, Hassrede, Herabwürdigung, Japan, Gesetze