"Sag nicht..."
Argumentative Muster der Wortkritik
von josch am 2020-07-26

Sprachkritik ist allgegenwärtig. Besonders aufmerksam werden wir auf sie, wenn über angemessene Bezeichnungen für Personen oder Sachverhalte debattiert wird - wie aktuell über die U-Bahn-Haltestelle "Mohrenstraße", Bezeichnungen wie "White Hat" und "Black Hat" und "Master" und "Slave" in der IT-Branche oder in der immer wieder aufblühenden Debatte über das "Gendern". Weil Politik aber auch darin besteht, Sachverhalt so darzustellen, dass bestimmte politische Maßnahmen plausibel oder sogar notwendig erscheinen, ist Sprachkritik ein allgegenwärtiges Medium der Politik und ein Feld der Aushandlung gesellschaftlicher Normen. Auf einer Metaebene ist "Sprachkritik" zudem selbst zu einer Ressource im Meinungsstreit geworden. Etwa dann, wenn Hegemonie durch sprachliche Dominanz zur politischen Strategie erklärt wird oder wenn bestimmte Formen von Sprachkritik als undemokratisch denunziert werden wie in der Debatte gegen die sogenannte Political Correctness.

Sprachkritk ist also mehr als ein Streit um Wörter. Vielleicht erklärt dies auch die Leidenschaft und Intensität, mit der um Sprache gestritten wird. Dabei gerät leicht aus dem Blick, dass die Parteien im Meinungsstreit sich aus einem relativ stabilen Fundus von Argumenten bedienen. Bei nüchterner, sprachwissenschaftlicher Betrachtung zeigt sich sogar, dass dieser Fundus nicht parteilich gegliedert ist, sondern sich Befürworterinnen und Gegner einer sprachlichen Form ja nach Kontext jedes Arguments bedienen können. Die Forschung zeigt, dass zwar einzelne Gruppen oder soziale Bewegungen Präferenzen für bestimmte Argumentationsmuster haben, allerdings lassen diese sich nicht nach einem einfachen Links-rechts- oder Konservativ-progressiv-Schema gliedern. Martin Wengeler (2003) hat als Pionier der linguistischen Argumentationsanalyse zahlreiche argumentative Topoi in sprachkritischen Diskursen identifiziert, die in der Folge erweitert und verfeinert wurden.

1. Berufung auf Wortverwendungs-Konventionen

Remotivierungs-Topos: Weil ein Bestandteil eines Wortes eine bestimmte Bedeutung hat, muss das Wort in einer dadurch bestimmten Art und Weise gebraucht werden.

Etymologie-Topos: Aus der ursprünglichen Bedeutung eines Wortes in seiner Ausgangssprache/in früheren sprachgeschichtlichen Epochen werden Folgen für seine angemessene heutige Verwendung abgeleitet.

Wörterbuch-Topos: Aus der in Wörterbüchern nachgeschlagenen Bedeutung eines Wortes werden Folgen für seine angemessene Verwendung abgeleitet.

Sprachästhetik-Topos: Aus dem eigenen Sprachempfinden heraus wird die Benutzung von Wörtern generell oder in einer bestimmten Bedeutung/in einem bestimmten Zusammenhang kritisiert und ihre Vermeidung empfohlen.

Dynamisierungs-Topos: Ein Begriff wird nicht – wie es ursprünglich der Fall war oder wie es richtigerweise sein muss – zur Bezeichnung der Wirklichkeit verwendet, sondern enthält darüber hinaus Bedeutungen, die auf Zukünftiges, Nicht-Reales, Nicht-empirisch-Messbares verweisen.

Geschichts-Topos: Ein Wort ist in einer geschichtlichen Phase – vor allem in der NS-Zeit – in bestimmter Weise verwendet worden und soll daher heute vermieden werden.

Autoritäts-Topos: Weil eine als Experte oder Autorität ausgewiesene Person oder Institution eine bestimmte sprachliche Äußerung befürwortet/ ablehnt, sollte diese Äußerung ausgeführt/nicht ausgeführt werden.

Topos von der Fremdbenennung: Ein sprachlicher Ausdruck wurde von einem Nichtangehörigen einer bestimmten Menschengruppe zur Bezeichnung dieser geschaffen. Der Ausdruck sollte vermieden und Wünsche bezüglich der von der jeweiligen Gruppe gewählten Eigenbezeichnung sollten respektiert werden.

2. Berufung auf die referentielle Funktion von Ausdrücken

Richtigkeits-Topos: Ein Wort entspricht (nicht) der mit ihm bezeichneten Realität und soll deshalb benutzt/vermieden werden.

Phantom-Topos: Ein Ausdruck ist deshalb unangemessen oder falsch, weil es das Bezeichnete in der Realität gar nicht gibt.

Worthülsen-Topos: Ein Wort ist so vage und vieldeutig, dass mit ihm kein Sachverhalt mehr oder viele verschiedene Sachverhalte bezeichnet werden können. Es sollte deshalb vermieden werden.

Euphemismus-Topos: Ein Wort verschleiert den Sachverhalt. Seine Benutzer wollen mit ihm täuschen/manipulieren. Deshalb sollte man das Wort vermeiden oder seinen Euphemismus-Charakter aufdecken.

Topos von der einseitigen Perspektive: Ein Ausdruck bezeichnet einen Sachverhalt aus einer einseitigen Perspektive. Er wird damit der vom Kritiker anders gesehenen oder komplexeren Wirklichkeit nicht gerecht und soll durch einen anderen Ausdruck ersetzt werden.

3. Berufung auf den Bewusstsein mitbestimmenden Charakter von Sprache

Bewusstseinskonstitutions-Topos: Wer bestimmte Ausdrücke benutzt, trägt zur Konstruktion/Konstitution eines bestimmten Bewusstseins und damit auch der sozialen Wirklichkeit bei. Daher soll der entsprechende Ausdruck vermieden oder bewusst verwendet werden.

Eindimensionalitäts-Topos: Ein Wort konstituiert einen Gegenstand auf so einseitige und daher unbrauchbare Weise, dass es durch andere Wörter ersetzt oder in seiner Bedeutung erweitert werden muss.

Umwertungs-Topos: Weil ein Wort abwertende Funktion hat, soll es gerade stolz als Selbstbezeichnung bzw. in positiven Kontexten benutzt werden, um eine Umwertung des Wortes und damit auch des Bezeichneten zu erreichen.

Indikator-Topos: Die Verwendung/Etablierung bestimmter Ausdrücke zeigt eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung, die zumeist kritisiert, seltener erfreut zur Kenntnis genommen wird.

4. Berufung auf den strategischen/kämpferischen Aspekt von Sprache

Schlagwort-Topos: Ein Wort ist ein reines Kampfmittel, an dem sich die politischen Auseinandersetzungen entzünden bzw. das nur zum "Schlagen" gegen den politischen Gegner verwendet wird, oder es wird nur benutzt, um einen Aufmerksamkeitsgewinn zu erzielen.

Topos vom politischen Gegner: Weil der politische Gegner ein Wort vielleicht sogar als "politischen Kampfbegriff" benutzt, soll es in der eigenen Partei/Gruppierung vermieden werden.

5. Berufung auf die emotive Funktion und Handlungsfunktion sprachlicher Zeichen

Betroffenheits-Topos: Durch ein Wort fühlt sich der Sprecher abgewertet/ diskriminiert. Er verlangt daher die Vermeidung des Wortes, vermeidet es selber und schlägt gegebenenfalls eine Ersatzbezeichnung vor.

Schimpfwort-Topos: Ein Wort ist ein Schimpfwort (geworden) und soll daher vermieden werden oder seine Verwendung sogar juristisch belangt werden.

Topos von der Normabweichung: Weil durch bestimmte sprachliche Äußerungen Menschen bzw. Menschengruppen ausgegrenzt/exotisiert/als andersartig deklariert werden bzw. ein Sachverhalt als von der Norm abweichend darstellt wird, sollten diese sprachlichen Äußerungen vermieden werden.

Homogenisierungs-Topos: Weil eine sprachliche Äußerung Menschen bzw. Menschengruppen oder einen Sachverhalt homogenisiert und die Identität des Einzelnen leugnet, sollte diese sprachliche Äußerung vermieden werden.

Rassismus-Topos: Weil durch bestimmte sprachliche Äußerungen Menschen rassistisch diskriminiert und abgewertet werden, sollten diese sprachlichen Äußerungen vermieden werden.

Assoziations-Topos: Ein Wort erinnert an ein anderes Wort und soll deshalb nicht benutzt werden.

Fazit

Die meisten sprachkritischen Debatten lassen sich auf diese Argumentationsmuster zurückführen. Und jedes dieser Topoi kann, je nachdem, wie er empirisch fundiert wird, Gültigkeit beanspruchen. Ein Medium der Gesellschaftsanalyse wird die Toposanalyse dann, wenn man fragt, welche Aspekte gesellschaftlicher Ordnungs- und Normalistätsvorstellungen implizit relevant gesetzt werden. Aber diese Frage wird leider zu selten gestellt.

Literatur

  • Wengeler, Martin (1996): Sprachthematisierungen in argumentativer Funktion. Eine Typologie. In: Karin Böke/Matthias Jung/Martin Wengeler (Hgg.): Öffentlicher Sprachgebrauch. Praktische, theoretische und historische Perspektiven. Opladen, S. 413-430.
  • Wengeler, Martin (2003): Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960-1985). Tübingen.
  • Friedemann, Alfons (2017): Argumentative Muster der Sprachkritik im Wandel: Topoi antirassistischer Wortkritik im Vergleich. In: Aptum, 02/2017. Themenheft: Hate Speech/Hassrede. S. 164-185.

Kategorie: Linguistik, Gesellschaft; Keywords: Sprachkritik, politische Korrektheit, Toposanalyse

Duden-Kritik
Politische Korrektheit von rechts
von josch am 2020-08-13

Alle paar Jahre gibt es eine Neuauflage des Duden, in der sich ein paar tausend neuer Lemmata finden. Diese verdanken sich einerseits dem geänderten Sprachgebrauch, den die Dudenredaktion mit Hilfe großer Textdatenbanken untersucht. Sie verdanken sich andererseits verlegerischem Kalkül, denn jede neue Auflage macht frühere Auflagen zu veralteten Auflagen und gibt Büros, Schulen und Privatleute einen Grund zum Kauf der neuesten. Weil Änderungen des Wortschatzes immer auch als Anzeichen gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen gedeutet werden können, stoßen die Neuauflagen auf öffentliches Interesse. Und die Medien machen gratis Werbung, indem sie über die "neuen Wörter" berichten.

Beitrag der AfD Landtagsfraktion auf einem sozialen Netzwerk vom 13. August 2020

In diesem Jahr trägt auch die AfD dazu bei, dass der Duden Verlag gratis Werbung für seine Neuauflage bekommt. Auf Facebook vermeldete die AfD-Fraktion:

+++ Der neue Duden ist eine einzige linkspolitisch, genderideologisch und denglisch verzerrte Enttäuschung, zur Durchsetzung linker Politik! +++

Abgesehen von der fehlerhaften Kommasetzung, die den Erwerb des Duden für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Landtagsfraktion vielleicht doch angezeigt erscheinen lässt, ist die Stellungnahme, die sich auf der Website der Landtagsfraktion in voller Länge findet, noch in anderer Hinsicht bemerksenswert. Denn im Text heißt es:

So weiß der Bonner Linguistiker Kristian Berg, dass im Duden nur Wörter stünden, die ‚systematisch im Deutschen verwendet werden‘ – leider vergaß er zu erläutern, von wem. So gehören Zusammensetzungen wie ‚Alltagsrassismus‘ oder ‚rechtsterroristisch‘, aber auch ‚Klimanotstand‘ oder ‚Ladesäule‘ nur zum ideologischen Sprachschatz kleiner Gruppen von Sprachverwendern wie Aktivisten, Politikern oder Journalisten – die diesen Sprachschatz gern der Mehrheit der Bürger verordnen wollen, um aus ihren [sic!] kruden Weltsicht Welt werden zu lassen.

"... um aus einer Weltsicht Welt werden zu lassen." - Macht sich die AfD also endlich Theorien von der wirklichkeitsschaffenden Funktion von Sprache zu eigen? Ausgerechnet jene Theorien aus Poststrukturalismus und Konstruktivismus, die sie lange so vehement bekämpft hat? Oder vertritt sie etwa selbst jene Position, die sie - Bemühungen um mehr Sprachsensibilität lächerlich machend - ihren politischen Gegnerinnen und Gegnern unterstellt, dass nämlich der Sachverhalt mit der Verbannung des Wortes verschwindet? Dass es also Rechtsterrorismus nicht mehr gibt, wenn wir nicht mehr "rechtsterroristisch" sagen? Oder dass die Unmenge an Ladesäulen verschwindet, wenn erst das Wort "Ladesäule" aus dem deutschen Sprachschatz verbannt ist? Und dass es keine Hassrede und keine Diskriminierung mehr gibt, wenn man nicht mehr "Hatespeech" und "Alltagsrassismus" sagen kann?

Meinungsäußerung von Anton Baron, AfD-MdL in Baden-Württemberg, auf einem Kurznachrichten-Dienst

Mehrere sprachwissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass die AfD die in bundesdeutschen Parlamenten vertetene Partei ist, die am häufigsten Kritik an der Sprache übt. Deutlich häufiger übrigens als die Grünen und auch mit bemerkenswertem Abstand zur Linken, denen die AfD selbst vorwirft, sich als Sprachpolizisten zu gerieren. Auch dafür, dass es einen Zusammenhang zwischen Sprachthematisierungen und politischem Extremismus gibt, finden sich empirische Belege. "Politische Korrektheit" jedenfalls, verstanden als Einschränkung des Gebrauchs sprachlicher Mittel aufgrund politischer Rücksichtnahmen, ist keineswegs ein bloß "linkes" Phänomen. Dafür liefert die Duden-Kritik der AfD einen weiteren Beleg.

Literatur

  • Scharloth, Joachim (2017): Ist die AfD eine populistische Partei? Eine Analyse am Beispiel des Landesverbandes Rheinland-Pfalz. In: Aptum, 1/2017, S. 1-15. preprint
  • Bubenhofer, Noah / Joachim Scharloth (2014): Sprachthematisierungen: Ein korpuslinguistisch-frequenzorientierter Zugang. In: Aptum, 2/2014, S. 140-154. preprint

PS: Auch die Bezeichnung "Linguistiker" könnten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mal im Duden nachschlagen.

Kategorie: Linguistik, Free Speech; Keywords: politische Korrektheit, neue Rechte, AfD