Neuerscheinung: "Sprachliche Gewalt"
Ein Band zu Formen und Effekten von Pejorisierung, verbaler Aggression und Hassrede
von josch am 2018-09-19

Zusammen mit Fabian Klinker und Joanna Szczęk habe ich ein Buch zum Thema "Sprachliche Gewalt" beim Metzler Verlag herausgegen. Die vollständige bibliographische Angabe lautet:

Klinker, Fabian / Joachim Scharloth / Joanna Szczęk (Hrsg.) (2018): Sprachliche Gewalt. Formen und Effekte von Hassrede, Pejorisierung und verbaler Aggression. Stuttgart: J.B. Metzler.

Im Folgenden dokumentiere ich das Editorial, das einen Überblick über die Beiträge gibt.

Editorial

Sprachliche Gewalt, Beleidigungen, Herabwürdigungen und zeichenhafte Aggressionen sind Normal- und zugleich Grenzfall menschlicher Kommunikation. Einerseits kennen alle vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaften Formen von Spott, Lästerung, Schmähung und Beschimpfung, die deshalb als ein ubiquitäres soziales Phänomen gelten und als eine grundlegende Dimension menschlicher Kommunikation und Interaktion verstanden werden dürfen. Andererseits stellen Praktiken der Entwertung und Herabsetzung einen Grenzfall der Kommunikation dar, insofern sie zumeist als Überschreitung des normalen Modus zwischenmenschlichen Umgangs aufgefasst werden; eine Normüberschreitung, die aber zugleich in besonderer Weise die Umrisse gesellschaftlicher „Normalität“ markiert. Gewalt verstehen wir dabei mit Sybille Krämer (2007: 36f) als Angriff auf den physischen und symbolischen Körper einer Person gleichermaßen. Mit Gewalt geht eine Veränderung der physischen oder sozialen Position einer Person einher, die vom Ziel des gewalttätigen Angriffs als schmerzhaft und verletzend aufgefasst wird, insofern der Angriff die Identität (im Sinne einer Positionierung im sozialen Raum) bedroht.

Im Unterschied zur physischen Gewalt kann sprachlich-symbolische Gewalt allerdings nicht aufgezwungen werden. Sie ist auf die Mitwirkung des Adressierten angewiesen, beruht jedoch ebenso auf der ratifizierenden, legitimierenden und autorisierenden Kraft, die von Dritten ausgeht (Kuch 2010: 234ff). So sind personale Dritte als Zeugen daran beteiligt, ein ambiges Geschehen als gewaltsam, ehrverletzend oder diskriminierend durch ihre Deutungen und ihr Verhalten zu disambiguieren. Dritte statten Sprecherinnen und Sprecher potenziell verletzender Worte zudem mit symbolischem Kapital aus, so dass sie im Namen Dritter sprechen können. Und schließlich sind Dritte insofern am invektiven Geschehen beteiligt, als sprachliche Herabsetzung in konventionalisierten Formen erfolgen muss, will sie gelingen, und eine Äußerung frühere Äußerungen Dritter aufruft und zitiert. Entsprechend ist sprachliche Gewalt nicht allein erklärbar als Folge der Intentionen von Sprecherinnen und Sprechern und ebenso wenig allein aus dem subjektiven Empfinden der adressierten Person.

Sprachliche Gewalt lässt sich anhand verschiedener Parameter in typische Figurationen differenzieren (König / Stathi 2010): Gerichtetheit (adressiert / nicht-adressiert), Referenzsubjekte (gerichtet gegen Individuen oder Angehörige einer Gruppe), Konventionalität der Mittel (konventionalisierte vs. tabuisierte oder artifizielle Formen), Vermitteltheit (direkt vs. indirekt), Beziehungen zwischen Sprecher/in und Adressat/in (Symmetrie / Asymmetrie), Anwesenheit eines Publikums (öffentlich / nicht-öffentlich), Wahrheitsbezug (Referenz auf begründbare Wahrheiten / als unbegründete Vorwürfe), Iteration (Wiederholung / Einmaligkeit), Art und Weise der Realisierung (Performanz vs. Unterlassung). Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie haben differenzierte, teils überlappende Ansätze zur Konzeptualisierung des Phänomenbereichs entwickelt.

Sprachliche Gewalt kann als universelles Phänomen, als Kehrseite der ordnungsstiftenden Kraft von Sprache verstanden werden. Jede Zuschreibung und jede Appellation ist ein Akt der Gewalt, wenn auch ein Akt, dessen Gewaltsamkeit zunächst keiner moralischen Beurteilung unterliegt. Diese Gewalt freilich ist Bedingung der Möglichkeit des Sprechens und damit stets vorethisch.

Schimpfwörter als sprachliche Mittel der Beleidigung und Herabsetzung werden längst nicht mehr als lexikalische Einheiten aufgefasst, die per se die Funktion haben, den Adressierten Merkmale mit negativer Konnotation zuzuschreiben, sondern als Ausdrücke mit idiomatischer Prägung (Feilke 1996), die sich ihrer Verwendung in typisierten kommunikativen Kontexten, Situationen und Funktionen verdankt. Das invektive Potenzial sprachlicher Ausdrücke ist daher das Produkt situativer und gesellschaftlicher Kontexte sowie habitualisierter und ritualisierter Interaktionen.

Sprachliche Gewalt kann als Sprechakt im Sinne Austins aufgefasst werden. Das Äußern von Wörtern ist demnach intentionales Handeln. Damit Äußerungen gelingen, müssen sie einem sozialen Schema folgen, das u.a. soziale Rollen und Vorstellungen von institutioneller Autorität und Geltung einschließt. Äußerungen sprachlicher Gewalt müssen also institutionalisierte und ritualisierte Verfahren realisieren. Damit sich die intendierte performative Kraft entfalten und perlokutionäre Effekte eintreten können, ist die Ratifizierung durch Adressierte und ggf. auch als Zeugen fungierende Dritte notwendig.

Einige Formen Sprachliche Gewalt können auch als Unhöflichkeit (Bousfield 2008) konzeptualisiert werden. Zentraler Anker dieser Theorien ist der Face-Begriff von Goffman (1967): In der Interaktion sind die an ihr Beteiligten normalerweise darum bemüht, die Verhaltensstrategien der anderen Interaktandinnen und Interaktanden zu billigen und zu unterstützen und ihnen so ein konsistentes Selbstbild und damit einen positiven sozialen Wert zuzuweisen. Sprachliche Gewalt besteht in dieser Perspektive darin, die Verhaltensstrategien der Interaktionspartner zu durchkreuzen oder explizit zu negieren.

Postsouveräne Subjektauffassungen lenken den Blick stärker auf die Produktionsbedingungen sprachlich-gewaltsamer Äußerungen. Damit geraten auch Arten invektiven Sprechens in den Fokus des Interesses, die auf Gruppen bezogen und über Gruppenzuschreibungen motiviert sind.

In Butlers (2006) Theorie der Hassrede (Hate Speech) ist Sprechen zentrales Medium der Subjektivierung. Subjekte handeln in dem Maße, wie sie in einem sprachlichen Feld konstituiert sind, das von sprachlichen (Un-)Möglichkeitsräumen begrenzt wird. Sprechen ruft damit immer strukturelle Herrschaftsverhältnisse auf, schreibt sie wieder ein und rekonstruiert damit die strukturelle Herrschaft. Sprachliche Gewalt als Hatespeech ist in dieser Lesart die Konstitution eines (marginalisierten) Subjektes durch diskursive Mittel.

Lann Hornscheidt (2013) verortet die Möglichkeit diskriminierenden Sprechens in einem Dispositiv transdependenter Machtverhältnisse, das strukturelle Diskriminierung hervorbringt. Diskursive Diskriminierungen sind demnach durch ein Dispositiv gerahmt, das die Möglichkeitsbedingungen für diese Formen diskursiver Diskriminierungen bereitstellt. Macht wird dabei vor allem als die Möglichkeit, Normalitätsvorstellungen zu generieren, aufgefasst und korreliert mit der Verteilung von Ressourcen, seien es symbolische oder materielle. Diskriminierung ist entsprechend nicht nur ein Akt persönlicher Intentionen und Verletzbarkeiten, sondern vor allem konstituierendes Merkmal sozialer Strukturen.

Um dem breiten Spektrum des eingangs beschriebenen Paradoxons einer gleichzeitig normstiftenden wie -überschreitenden Wirkung von Herabsetzungen und sprachlicher Aggression in ausreichendem Maße habhaft zu werden, wird im vorliegenden Band ein breiter Phänomenbereich in den Blick genommen. Ausgehend von den skizzierten Großtheorien sollen zum einen die sprachlichen Realisierungsformen von Entwertungen beschreiben und analysiert und zum anderen die Effekte, die sich daraus für Einzelne, Gruppen und die soziale Ordnung ergeben, reflektiert werden.

Joachim Scharloth (Tokyo) perspektiviert in seinem Beitrag sprachliche Herabwürdigungen als Ressource für das Reflexivwerden gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen und damit als möglichen Auslöser gesellschaftlichen und kulturellen Wandels. Er geht davon aus, dass das invektive Potenzial von sprachlichen Formen und Praktiken das Ergebnis von expliziten Zuschreibungen ist, wobei die Zuschreibungen selbst auch invektiv gedeutet werden können. An Beispielen der 68er-Bewegung illustriert er, wie durch inszeniertes invektives Handeln metainvektive Debatten ausgelöst und Invektiven so ein Medium des Politischen werden können.

Indirekte Formen sprachlicher Aggression stehen im Fokus des Beitrags von Joanna Szczęk (Wrocław). Die Autorin beleuchtet dies am Beispiel der Kategorien der (Un)Höflichkeit, die als Instrumente der latenten Formen der sprachlichen Herabsetzung betrachtet werden. Es wird zugleich ein Versuch unternommen, einen Katalog der verdeckten Formen aggressiven Sprechens zu entwerfen.

Formen rationaler Argumentation, die als Formen der Verschleierung verbaler Aggression genutzt werden, sind Gegenstand der Analyse von Holger Kuße (Dresden). Der Verfasser analysiert das an Beispielen aus dem Ukrainekonflikt. Die Studie bietet einen Blick auf aggressive Argumente, aufgrund derer Argumentationen selbst aggressive Handlungen darstellen.

Im Mittelpunkt der Studie von Marcelina Kałasznik (Wrocław) stehen pejorative Metaphern im Flüchtlingsdiskurs. Die empirische Basis stellen Komposita mit dem Erstglied Flüchtling dar. Die Analyse konzentriert sich auf die Beantwortung der Fragen, worin die diskurslinguistische Relevanz der analysierten metaphorischen Zusammensetzungen besteht, und inwieweit sie herabsetzend wirken und wodurch sie ihren abwertenden Charakter entfalten.

Symbolische Gewalt kondensiert sich häufig in konkreten Sprachhandlungen als Beleidigung, Herabsetzung oder Entwertung, jedoch wird das invektive Potenzial solcher Äußerungen erst dann gesellschaftlich wirksam, wenn deren Geltungsanspruch durch eine narrative Struktur legitimiert wird. In besonderem Maße kann dabei das politische Programm fundamentaloppositioneller Parteien oder Gruppen als legitimatorische Instanz für gewaltbereites Sprechen und/oder Handeln fungieren. Im Beitrag „Narrative Legitimation invektiven Sprechens in der Politik“ von Fabian Klinker (Dresden) werden am Beispiel politischer Reden Adolf Hitlers korpuslinguistisch typische nationalsozialistische Erzählmuster beschrieben, die als konstitutiv für herabsetzendes und entwertendes Sprechen gelten können.

Invektivitätspotenzial der olfaktorischen Lexeme Stinker / Stänkerer im Deutschen und śmierdziel / śmierdziuch im Polnischen wird im Beitrag von Przemysław Staniewski (Wrocław) analysiert. Ausgehend von den Wörterbuchdefinitionen werden Beispiele aus den Korpora (DeReKo, NKJP) angeführt, anhand derer zusätzliche semantische Komponenten der analysierten Lexeme ermittelt werden und die bezeugen, dass die Geruchswörter über das Invektvitätspotenzial sowohl auf der wörtlichen, d.h. perzeptuellen, als auch auf der metaphorischen Ebene verfügen.

Die dramatischen Tragödien um terroristische Gewaltakte sind dieser Tage omnipräsent in der Medienberichterstattung. Gerade dort etabliert sich der Terrorismus neben seiner ursprünglich physischen Dimension jedoch auch als Kommunikationsstrategie, welche im Medium kollektiv induzierter Angst als eine Form der kulturellen Herabsetzung interpretiert werden kann. Die theoretische Ausdifferenzierung dieser gesellschaftlich sehr wirksamen Spielart symbolischer Gewalt wird im Beitrag „Die Angst vor Terrorismus. Emotionen in Folge von kollektiver Herabsetzung“ von Christopher Georgi (Dresden) empirisch anhand einer korpuslinguistischen Studie zur Funktionsweise der Angstkommunikation im medialen Terrorismusdiskurs nachvollzogen.

Der Beitrag „Entwertungs-Handlungen im Zuge diskursiver Radikalisierung – 'Wir sind auf verschiedenen Seiten der Barrikade'“ von Michaela Schnick (Dresden) führt das Konzept der diskursiven Radikalisierung ein, das von einer zunehmenden Entfernung von Akteur_innen-Positionen ausgeht, die anhand von topischen Strukturen und im Speziellen durch Entwertungs-Handlungen am Beispiel von Maischberger-Sendungen untersucht werden. Radikalisierung wird insofern als sprachliche Gewalt verstanden, als dass die am Radikalisierungsprozess beteiligten diskursiven Positionen potenziell verdrängt bzw. angegriffen werden.

Mihael Svitek unternimmt mit dem Beitrag „Der Ideologievorwurf“ den Versuch einer linguistischen Erstbeschreibung eines Phänomens sprachlicher Gewalt, welches zwar eher diffus und wenig offensichtlich zutage tritt, aber gerade im politischen Diskurs als gängige Argumentationspraxis eine enorme Wirkmächtigkeit erzeugt, indem es im öffentlichen Raum politischen Gegnern unter dem Verdacht ideologischer Befangenheit von vornherein eine relevante realweltliche Bezugnahme abspricht. Anhand eines Korpus von Redeprotokollen des Bundestags der 17. Legislaturperiode (2009-2013) werden in einer empirischen Analyse diverse Formen und Funktionen des Ideologievorwurfs im parteilichen Vergleich analysiert.

Verschwörungstheorien stützen sich auf alternative Wissensbestände, die es gegen gängige, sozial anerkannte Erklärungsmodelle und Wirklichkeitsbestimmungen zu etablieren und zu verteidigen gilt. Im Zuge dessen wird ein dualistisches Weltbild aufgebaut, in dem die Gegenseite als gefährlich und unehrlich dargestellt und somit entwertet wird. Wie sich diese und andere Strategien auf einer sprachlichen Ebene manifestieren, untersuchen Josephine Obert und Franz Keilholz (Dresden) mit Hilfe vergleichender korpuslinguistischer Verfahren in ihrem Beitrag „Wahrheitsoperationen bei 'alternativen Fakten': Verschwörungstheoretische Strategien zur Abwertung von Autoritäten im Medium der Sprache“.

„Pluralisierung als Relativierung von Wahrheit im ‚Informationskrieg’” lautet der Titel der Studie von Judith Felten (Dresden). Auf der Basis eines framesemantischen Vergleichs von Russia Today Deutschland und tagesschau.de wird gezeigt, dass durch das Aufzeigen immer neuer, alternativer Deutungen einzelner Fakten Wahrheit als regulative Idee entwertet wird.

Die hier versammelten Texte sollen dazu beitragen, eine Perspektive auf Praktiken sprachlicher Herabsetzung und Entwertung zu entwickeln, die nicht in der Semantik von Täter und Opfer, gut und schlecht, akzeptabel oder unschicklich aufgeht. Vielmehr soll der primär sprachkritische Blick durch eine Perspektive erweitert werden, in der invektives Handeln als fundamentaler Modus gesellschaftlicher Kommunikation einen wichtigen Beitrag zur Konsolodierung und/oder Dynamisierung sozialer, kultureller und diskursiver Ordnung leistet.

Literatur

  • Bousfield, Derek (2008): Impoliteness in Interaction. Amsterdam: John Benjamins.
  • Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Goffman, Erving (1967): Interaction ritual. Essays in face-to-face behavior. Chicago: Aldine.
  • Hornscheidt, Lann (2013): Der Hate Speech-Diskurs als Hate Speech: Pejorisierung als konstruktivistisches Modell zur Analyse diskriminierender Sprach_handlungen. In: Meibauer, Jörg (Hrsg.): Hate Speech/Hassrede. Interdisziplinäre Beiträge des gleichnamigen Workshops, Mainz 2009. Linguistische Untersuchungen. Gießener elektronische Bibliothek. S. 29-58. Online: Online
  • König, Ekkehard / Stathi, Katarina (2010): Gewalt durch Sprache: Grundlagen und Manifestationen. In: Krämer, Sybille / Koch, Elke (Hrsg.): Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens. München: Wilhelm Fink Verlag. S. 45-59
  • Krämer, Sybille (2007): Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte? In: Herrmann, Steffen Kitty / Krämer, Sybille / Kuch, Hannes (Hrsg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung, Edition Moderne Postmoderne. Bielefeld: Transcript Verlag, S. 31–48.
  • Kuch, Hannes (2010): Austin – Performative Kraft und sprachliche Gewalt. In: Kuch, Hannes / Herrmann, Steffen Kitty (Hrsg.): Philosophien sprachlicher Gewalt. 21 Grundpositionen von Platon bis Butler. Weilerswist. S. 219-240.

Kategorie: Publikationen; Keywords: Hassrede, Hate Speech, Beleidigung, Herabwürdigung, sprachliche Gewalt

Hassrede / Hate Speech
Was sie ist, wie sie funktioniert und warum wir darüber streiten
1. Was ist Hate Speech?

Nicht jede Beleidigung und nicht jede Hetze ist Hate Speech. Wenn ich einen Autofahrer, der mir die Vorfahrt nimmt, als "Arschloch" bezeichne, dann beleidige ich ihn zwar. Aber Hate Speech ist es deswegen noch nicht, selbst wenn es mein alter Bekannter Gerd ist, dem ich schon länger in Feindschaft verbunden bin, den ich vielleicht sogar hasse.

Hate Speech ist eine Sonderform der Herabwürdigung. Eine Herabwürdigung besteht darin, dass man einer Person eine soziale Identität zuschreibt, die von der Mehrheit der Gesellschaft negativ beurteilt wird, eine unwerte, moralisch verwerfliche oder randständige Identität.

Diese Zuschreibung, auch wenn sie rein sprachlich ist, ist mehr als bloß Worte. Sie hat Folgen im realen Leben. Mit ihr verbunden sind Vorstellungen davon, wie man mit Personen, denen diese Identität zugeschrieben wird, umgehen kann oder sogar umzugehen hat. Ein "Arschloch" zu sein, ist für die meisten Menschen keine positive Eigenschaft und wer als ein Arschloch gilt, dem begegnet man mit wenig Freundlichkeit, den grenzt man aus, den straft man mit Missachtung.

Im Unterschied zu anderen Formen der Hearbwürdigung liegt Hate Speech dann vor, wenn die Herabwürdigung ihre herabwürdigende Kraft daraus bezieht, dass eine Person als Vertreterin einer Gruppe adressiert wird und ihr negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die dieser Gruppe vermeintlich kollektiv, universell und unveränderbar zukommen.

Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach: Wer eine Person als "geldgierigen Juden" bezeichnet, der kommuniziert im Modus von Hate Speech, indem er einer Person eine negativ bewertete Eigenschaft zuschreibt (geldgierig sein) und diese Zuschreibung damit begründet, dass die Person Angehörige einer Gruppe sei, für die Geldgier vermeintlich eine konstitutive Eigenschaft ist. Wenn im Kontext von PEGIDA Flüchtlinge aus den Maghreb-Staaten "triebgesteuerte afrikanische Fickilanten" genannt werden, dann ist dies Hate Speech, denn die Bezeichnung schreibt Personen eine negativ bewertete Eigenschaft zu (nämlich zum Zweck der Triebbefridigung missbräuchlich politisches Asyl beantragt zu haben) und begründet dies damit, dass sie zur Gruppe der Afrikaner gehörten, deren Angehörige quasi von Natur aus triebgesteuert seien.

Daran ist natürlich so ziemlich alles falsch: Selbstverständlich ist jede Person als Individuum zu behandeln, ihre Persönlichkeit ist nicht durch die Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe determiniert, die Gruppen, zu deren Vertretern einzelne Personen sprachlich gemacht werden, sind soziale Konstrukte und daher auch nicht durch natürliche, bei allen Vertretern vorhandene Eigenschaften abgrenzbar, und so weiter und so fort.

2. Wie funktioniert Hate Speech?

Damit eine Äußerung den beabsichtigten herabwürdigenden Effekt hat, ist es nicht genug, sie öffentlich oder zumindest für den zu Beleidigenden wahrnehmbar zu äußern. Sie könnte als irrelavant ignoriert oder als Zeichen einer nicht normgemäßen Geistesverfassung des Beleidigers zurückgewiesen werden. Damit die Zuschreibung einer marginalisierten sozialen Identität gelingt, muss sie von Dritten, die Zeuge der herabwürdigenden Äußerung sind, anerkannt werden.

Nur wenn eine relevante Gruppe von Menschen die Zuschreibung der negativen Eigenschaft als zutreffend anerkennt, hat dies Folgen für die soziale Identität der Betroffenen. Das unterscheidet sprachliche Gewalt auch von physischer Gewalt: Physische Gewalt kann man aufzwingen, symbolische Gewalt bedarf der Anerkennung durch Dritte. Damit Hate Speech wirken kann, braucht sie daher die Öffentlichkeit, den Skandal. Ohne die Claqueure auf den Plätzen, ohne die Likes auf Facebook hätte Hate Speech keine Chance.

Die Chance auf Anerkennung steigt, wenn die Herabwürdigung Bezug nimmt auf Vorurteile und auf Wissen, das in einer Gesellschaft ganz selbstverständlich und unhinterfragt als wahr gilt. Frauen sind "das schwache Geschlecht", Schwarze sind "faule, sinnliche Menschen" mit "Rhytmus im Blut", Japaner sind "verklemmt", Asiaten "sehen alle gleich aus", Deutsche sind "ordentlich" und "arbeitsam".

Noch größer sind die Chancen auf Anerkennung, wenn eine Gruppe selbst über die diskursive Macht verfügt, kollektive Vorstellungen davon zu erzeugen, was als wahres Wissen gilt. Die Echokammern der sozialen Netzwerke, in denen jeder geteilte Informationsschnipsel beispielsweise zur Konstruktion eines Wissens um den vermeintlich kriminellen Charakter des Ausländers beiträgt und jeder Widerspruch als Manipulation der Lügenpresse gedeutet wird, sind nützliche Kraftzentren der Produktion von Normalitätsvorstellungen.

3. Warum streiten wir überhaupt über Hate Speech?

Aus dem bisher Gesagten sollte klar sein, dass im Modus von Hate Speech geäußerte Beiträge zu öffentlichen Debatten verzichtbar sind und in den meisten Fällen kontraproduktiv wirken. Menschen auf ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe und auf negative Eigenschaften zu reduzieren, die vermeintlich allen Menschen dieser Gruppe quasi natürlich und unveränderlich zukommen, ermöglicht keine Verständigung und löst keine Probleme, sondern führt zu Entwürdigung, Ausgrenzung und Feindseligkeiten. Man sollte meinen, dass niemand ernsthaft dagegen sein kann, Hate Speech sozial zu ächten. Warum wird um Hate Speech dennoch so leidenschaftlich gestritten? Dafür gibt es drei Gründe.

Erstens wird die Bezeichnung "Hate Speech" im öffentlichen Diskurs auch für Phänomene verwendet, die ebenfalls unschön, aber kein Hate Speech im Sinn der obigen Begriffsbestimmung sind, etwa für Pöbeleien ad personam oder allgemein abfällige Äußerungen über Gruppen, deren abwertende Kraft sich nicht aus der Bezugnahme auf quasi-naturalisierte Gruppeneigenschaften speist. Weil aber der Vorwurf der Hassrede schwer wiegt, provoziert eine zu starke Ausweitung des Begriffs Widerstand.

Der Streit um Hate Speech entfacht sich zweitens daran, dass gesellschaftlich umstritten ist, was eigentlich als eine Herabsetzung gelten kann. Zwar suggeriert die obige Definition Eindeutigkeit im Hinblick darauf, welche spezifische Art der verbalen Herabsetzung den Charakter von Hate Speech hat und welche nicht. Allerdings gibt sie kein objektives Kriterium für die Identifizierung jener Eigenschaften an, die geeignet sind, Personen eine marginalisierte soziale Identität zuzuschreiben. Ist es bereits herabwürdigend, die Herkunft, den Glauben oder die sexuelle Orientierung einer Person in einem Gespräch relevant zu setzen? Ist die Zuschreibung von Eigenschaften wie "weiblich", "dick", "behindert", "türkisch" oder "glatzköpfig" geeignet gruppenspezifische negative Stereotype zu transportieren und damit eine Person abzuwerten und zu marginalisieren? Drückt der Satz "Was sagst du als Frau dazu?" ein argloses Interesse an einer genderspezifischen Sichtweise aus? Oder kommt mit ihm zum Ausdruck, dass für den Frager die Sichtweise seiner Gegenüber ausschließlich von ihrem Frausein bestimmt ist, wobei "weiblich" das andere, von der Norm abweichende Geschlecht ist?

Drittens ist die Frage umstritten, auf welche Weise Hate Speech eigentlich realisiert werden muss, um Hate Speech zu sein. Kann man nur dann von Hate Speech sprechen, wenn eine Person oder Personengruppe direkt angesprochen wird? Oder sind auch indirekte Formen der Bezugnahme auf Personen und Gruppen wie das Vorkommen des N-Wortes in einem Kinderbuch Hate Speech? Oder sind gar bildliche Ausdrücke wie "der Vergleich hinkt" herabwürdigend, weil sie etwas Falsches, Defizientes mit einer körperlichen Einschränkung verknüpfen?

Diese Fragen lassen sich nicht objektiv entscheiden. Welche Art der sprachlichen Äußerung als Herabsetzung gilt, welche Zuschreibung zu einer marginalisierten sozialen Identität führt ist das Ergebnis gesellschaftlicher Debatten und wir sind mitten drin.

4. Worum geht es beim Streit um Hate Speech?

Es wäre aber zu einfach, die Debatte um Hate Speech ausschließlich als einen Kampf um Wörter zu beschreiben. Bei ihr geht es um viel mehr: Sie aktualisiert Konflikte um Partizipation, um Deutungsmacht und damit um die soziale Ordnung.

Wenn über die Frage gestritten wird, ob die Bezeichnung "Fettleibigkeit" noch verwendet werden sollte oder nicht, dann geht es auch um die Frage, welche negativen Eigenschaften mit dieser Zuschreibung transportiert werden und welche marginalisierenden Effekte diese Zuschreibung für die Betroffenen daher haben kann, sei es bei der Arbeitsplatzsuche, im Gesundheitssystem oder beim Knüpfen sozialer Beziehungen. Mit der Diskussion um die Bezeichnung gerät also immer auch die Frage in den Blick, ob die Bezeichneten eine marginalisierte Gruppe sind, deren Mitgliedern ohne Ansehen der Person negative Eigenschaften zugeschrieben werden, oder nicht.

Wir sollten nicht jenen auf den Leim gehen, die behaupten, die Stigmatisierung von Hate Speech diene lediglich dazu, die Wahrheit zu unterdrücken und die demokratische Debattenkultur einzuschränken. Das Gegenteil ist der Fall: Über die Grenzen von Hate Speech sollten wir leidenschaftlich debattieren, denn die Debatte ist ein Medium der Verständigung darüber, wie unsere Gesellschaft aussehen soll. Ganz gleich zu welchem Ergebnis wir im Einzelfall auch kommen: Es ist eine Debatte mit und über jene, die nicht ins Normalitätsraster aller passen und die sich bislang wenig Gehör verschaffen können. Und schon dies ist ein Schritt hin zu einer größeren Meinungsvielfalt und einer inklusiveren Gesellschaft.

von josch am 2016-09-15